Freitag, 7. November 2014

Freizügigkeit - Wie viel ist zu viel?

Jeder kennt diese Situation: Man sitzt in der mega-super-überfüllten Bahn (in diesen Tagen vielleicht eher im Schienenersatzverkehrsbus) und hat plötzlich dieses Unterzuckergefühl. Schnell stopft man sich ein paar Plättchen Traubenzucker (börks!!) rein (und/oder Saft-Cola-Gummibärchen-Banane-Keks). Brav, ganz nach Lehrbuch. Erst essen, dann messen. Messen? Hier und jetzt in der mega-super-überfüllten Bahn? Muss das denn sein?

Genau mit diesen Worten wurde ich kürzlich in der Bahn angepampt. Ob das denn sein müsste, dass ich mir hier in der Bahn, wo es jeder sehen kann, in den Finger steche und dann das Blut rausquetsche. Ekelhaft sei das. Total ekelhaft. Mit gegenüber saß eine Frau mittleren Alters von der Marke "Wenn ich mit dem Gesicht gegen die Wand laufe, dann sieht man danach den bunten Abdruck" und guckte pikiert als ich konterte: Naja, wenn es nicht sein müsste, würde ich es sicher nicht machen. Macht man ja nicht einfach mal so zum Spaß.
Im Nachhinein habe ich immer wieder über diesen Vorfall nachgedacht. Sind wir als Diabetiker verpflichtet, unsere Therapie so vorzunehmen, dass andere Leute davon möglichst wenig mitbekommen? Muss ich grundsätzlich davon ausgehen, dass die Dinge, die ich tun muss, um meine Krankheit zu behandeln, so abartig sind, dass man sie keinem anderen Menschen außer denjenigen, die darauf angewiesen sind, zumuten kann? Muss ich, in einer Situation in der es eigentlich nur darum geht, meinen eigenen A***h aus einer fetten Hypo zu retten, Rücksicht auf das Befinden der Umstehenden nehmen?

Fakt ist, ich messe durchschnittlich 9x täglich meinen Blutzucker, die "Penner" unter uns spritzen sich rund 5x täglich Insulin. Müssten wir uns jedes mal bevor wir mit dem Messen/Spritzen beginnen können einen geeigneten "Tatort" suchen, würde dies mehr Zeit in Anspruch nehmen, als die Therapiemaßnahme selbst. Aus diesem und weiteren Gründen bin ich der Meinung, dass kein Diabetiker gezwungen ist, seine Therapie ausschließlich im stillen Kämmerlein vorzunehmen. Klar, man muss sich nicht unbedingt am Esstisch spritzen, besonders nicht, wenn man weiß, dass Leute von der etwas zarter besaiteten Sorte anwesend sind. Und man muss auch kein Blut-Quetsch-Massaker veranstalten, wenn man mit Bekannten zusammensitzt, die mit dem Diabetes und seiner Behandlung vielleicht ohnehin nicht so vertraut sind.Trotzdem gibt es einfach Situationen, in denen sich weder die schnelle Injektion am Esstisch, noch das Blut-Quetsch-Massaker vermeiden lassen. Manchmal muss es eben sein. Schnell und am besten sofort.

Ich kann verstehen, wenn das, was wir da manchmal mit unserem Körper veranstalten (müssen), auf  Unverständnis oder Ekel stößt. Was viele Menschen dabei oft vergessen ist, dass sich das keiner von uns ausgesucht hat. Ich bin nicht eines morgens aufgewacht und habe mir gedacht Hey, ab heute möchte ich bitte Zucker haben und mich ständig pieksen müssen. Das war irgendwann einfach da. Eine unangenehme Pflicht, die eben erledigt werden muss. Und in diesem Fall ist der Begriff Pflicht wirklich wörtlich zu nehmen. Es bleibt uns leider oft nichts anderes übrig, als auch in überfüllten Bahnen, mitten in der Vorlesung oder im Praktikum in der Englischstunde, nachts, beim Sport, draußen im Park oder sonst wo eine Pause einzulegen, unser Messgerät zu zücken und eben das zu tun, was wir halt so tun. Pieksen.

Ich habe aufgehört mich dafür zu schämen oder das alles verstecken zu wollen. Mit der Zeit lernt man, dass all das Drumherum jetzt einfach zum Leben gehört. Das heißt nicht, dass ich es besonders toll finde, vor fremden Menschen zu messen, aber wenn ich muss, dann mache ich es. Und dann soll mir keiner erzählen, das sei ekelhaft, unangemessen oder "total krank". Auch wenn es das manchmal vielleicht wirklich ist.

In diesem Sinne wünsch ich euch allen ein schönes Wochenende!

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