Wie war das eigentlich damals am Tag X - dem Tag, an dem der Diabetes kam?
Ich glaube ja, einen richtigen Tag X gibt es nicht. Meine Mama sagte mal sie denke im Nachhinein, dass ich schon Jahre vor der eigentlichen Diagnose im März 2000 gelegentlich Symptome zeigte, die einfach nicht als das erkannt wurden, was sie wirklich waren. Wieso auch? Im alltäglichen Wusel denkt man sich nichts dabei, wenn das Kind mal ein paar Tage müde und doll durstig ist.
Mit 5 (ich glaube es war mit 5) hatte ich mal eine Lungenentzündung - vielleicht war das der Auslöser allen späteren Übels. Heute schwer nachzuvollziehen.
Richtig stutzig wurden meine Eltern damals im Skiurlaub. Ich war schlapp, müde, mir taten ungewöhnlich schnell die Beine weh und ich war auch sonst einfach nölig. Ständig waren Trink- und Pipipausen fällig, in denen ich dann auch noch meist mit Skiwasser, Fanta oder Saftschorle meinen nicht enden wollenden Durst löschte. Da auch mein Opa und mein Uropa mit dem süßen Kumpel (allerdings Typ 2) zu tun hatten, kannte meine Mama die typischen Symptome und so ging es nach der Rückkehr aus dem Skiurlaub erstmal zum Hausarzt. Als der uns dann sofort an den Diabetologen weiterüberwies, war eigentlich alles klar.
So wirklich aktiv erinnern kann ich mich an fast nichts mehr, das meiste weiß ich aus Erzählungen. Eines weiß ich aber noch: Ich hatte richtig Angst vor Spritzen. Im Wartezimmer hatte ich so Angst, dass mir Blut abgenommen werden muss, dass ich mich am Ende über den Pieks in den Finger fast schon gefreut habe (naja ein bisschen geheult habe ich vielleicht trotzdem). Das Gerät zeigte 599mg/dl, den Grenzwert des Messgeräts - wie hoch ich wirklich war, weiß ich nicht. Im Nachhinein weiß ich aber, dass ich einem diabetischen Koma wahrscheinlich nicht allzu fern war. An die Stunden die folgten, habe ich so gut wie keine Erinnerung mehr. Leute kamen und gingen, sagten wie tapfer ich doch sei, erklärten mir was von Schlüsselchen und Schränkchen und dann war da diese Frau. Ich bin die Annette, sagte sie, ich heiße fast genau wie du. Sie zog einen Kugelschreiber aus der Tasche, öffnete den Deckel und dann begriff ich: das ist kein Kuli, das ist eine SPRITZE. Oh Gott, ich hätte ausrasten können. Bin ich wahrscheinlich auch. Ziemlich wahrscheinlich sogar. Aber irgendwie musste es ja rein, das Insulin.
Das nächste woran ich mich erinnere ist, dass wir wieder Zuhause waren. Ich war alleine in der Küche und ich hatte SO Hunger. Erstmal ein Brot. Lecker. Aber hey, halt, da war doch was. Ich darf das jetzt nich mehr, schoss es mir durch den Kopf. Genau in diesem Wortlaut. Das weiß ich noch. Also doch kein Brot. Das war in dem Moment mein einziges Problem. Kein Brot. Mist!
Die nächste Szene, die ich noch im Kopf habe fand noch am selben Abend statt. Abendessenszeit. Hunger! Brot! Endlich was essen!!! Anne, wir müssen erst noch Zucker messen, sagt meine Mama. NUR Fingerpieksen! Also gut, Fingerpieksen lasse ich mir noch gefallen. Ich meine mich zu erinnern, dass der Wert immernoch doll hoch war, aber auf jeden Fall schon besser, als der erste. Aber naja, jeder Diabetiker weiß ja, beim Fingerpieksen bleibt es meistens nicht. Und Angst vor Spritzen hatte ich immernoch. Was jetzt kommen sollte ist die schlimmste Erinnerung meines Lebens. Meine Eltern mussten mich zu zweit festhalten, damit mir mein Papa die Spritze setzen konnte. Ich habe geschrien, gestrampelt, gezappelt und mich mit ganzer Kraft gewehrt - aber irgendwie half alles nichts. Es musste halt gemacht werden. (Zu eurer Beruhigung, ich hatte schnell keinen Bock mehr auf das Spritzentheater und habe dann doch beschlossen, dass es besser ist für alle Beteiligten, wenn ich mich von nun an selbst spritze.)
Das war er, mein Tag X. Ein Tag, der alles auf den Kopf gestellt hat. Aber trotz allem, trotz aller Höhen und Tiefen, würde ich nie behaupten, dass er alles schlechter gemacht hat. Er hat vieles verändert, das auf jeden Fall, aber wirklich schlechter geworden ist dadurch eigentlich nichts. Naja gut, ein paar Dinge vielleicht...aber wie sagt der Pfälzer so schön: So hot halt jeder sei Päckel zu trage.
Wenn ich das jetzt so schreibe fällt mir auf, dass ich selbst an meinem Tag X eigentlich sowieso nichts begriffen habe. Und ich versuche mir vorzustellen, wie es für meine Eltern gewesen sein muss. Wie es sein muss, seinem schreienden, strampelnden Kind eine Spritze zu setzen. Wie es sich anfühlen muss, zu erfahren, dass das eigene Kind unheilbar "krank" ist (ich mag dieses Wort nicht). Und jetzt wo ich weiß, was es heißt als Erwachsener selbst Diabetes zu haben, ziehe ich meinen Hut vor allen Eltern von Kindern mit Diabetes - allen voran vor meinen eigenen.
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